17. Kapitel

 

Sagen Sie, Miss Greyson, haben Sie den Exbridge-Drachen schon kennen gelernt?« Lächelnd nahm Basil Ware auf dem mit leuchtend blauem Samt bezogenen Stuhl neben Emma Platz.

Er musste sich dicht zu ihr herüberbeugen, damit sie ihn unter dem allgemeinen Gelächter und Geplauder überhaupt verstand. Die Theaterloge war momentan beinahe überfüllt, denn mehrere ältliche Bewunderer Lettys waren während der Pause aufgetaucht, um ihr ihre Aufwartung zu machen, und jeder von ihnen hatte ihr ein Glas Champagner mitgebracht. Sie drängten sich um ihren üppigen Busen, der unter dem scharlachroten Satingewand überdeutlich zu Tage trat.

Emmas eigene, weniger ausladende Brust wurde durch den tiefen Ausschnitt ihres grünen Kleides ebenfalls betont. Ihr Dekolleté war mit zahllosen goldenen Bändern gesäumt, von denen einige strategisch günstig befestigt waren, so dass man ihre Brustwarzen - ein schwacher Trost - eher erahnte, als dass man sie tatsächlich sah. Als sie sich nach der Möglichkeit erkundigt hatte, den Ausschnitt mit etwas Spitze auszufüllen, hatten ihr sowohl Letty als auch die Schneiderin versichert, so, wie es wäre, wäre das Kleid der letzte Schrei. Emma hatte ihre Zweifel unterdrückt. Was wusste sie schon von solchen Dingen? Sie war eine ehemalige bezahlte Gesellschafterin, keine modebewusste Dame aus reichem Haus.

Basil Wares Auftauchen hatte sie überrascht. Als er angekommen war, hatte sie gerade verfolgt, was sich in Mirandas Loge, die der ihren auf der anderen Seite des Theaters gegenüberlag, abspielte.

»Drachen? Was für einen Drachen?« Emma spähte durch ihr Opernglas und runzelte die Stirn, als sie sah, dass sich Edison etwas zu galant über Mirandas behandschuhten Finger beugte.

Als sie zuvor ihren Plan entwickelt hatten, war sie noch der Ansicht gewesen, er wäre ziemlich schlau. Zwischen den einzelnen Akten würde Edison Miranda in ihrer Loge aufsuchen und in ein Gespräch verwickeln, um auf diese Weise vielleicht etwas über ihre Vergangenheit herauszufinden, hatte er gesagt.

Es verlief alles durchaus nach Plan, aber Emma stellte fest, dass sie es nicht mochte, wie sich Edison bei Miranda geradezu anbiederte. Es bestand keine Notwendigkeit für ihn, sich so dicht neben Lady Ames zu setzen, dass sie leicht mit ihren Fingern über seinen Oberschenkel streichen konnte. Auch wenn es eine augenscheinlich zufällige Geste war, spürte Emma, dass die leichte Liebkosung durchaus zielgerichtet war. Miranda versuchte, eines ihrer Netze zu spinnen, in dem sie für gewöhnlich Männer fing.

»Victoria, Lady Exbridge.« Basil klang ehrlich amüsiert. »Die Großmutter Ihres Verlobten. Sie ist heute Abend ebenfalls anwesend. Ganz sicher sind Sie der Grund dafür.«

Überrascht ließ Emma ihr Opernglas sinken und drehte sich zu Basil um. »Was wollen Sie damit sagen? Wo ist sie?«

»Sie sitzt im letzten Balkondrittel auf der anderen Seite.« Basil nickte unauffällig in die angegebene Richtung. »Die vierte Loge von links. Sie können sie unmöglich übersehen. Die Dame in dem blass lavendelfarbenen Kleid, die durch ihr Opernglas unverwandt in Ihre Richtung starrt.«

»Es scheint, als würde ich von der Hälfte der Theaterbesucher angestarrt«, murmelte Emma so leise, dass man sie kaum verstand. Und die andere Hälfte schien zu beobachten, was sich zwischen Edison und Miranda abspielte, dachte sie erbost.

Trotzdem blickte sie in die gewiesene Richtung und machte die schmale, aber höchst beeindruckende Frau in dem teuren lavendelfarbenen Kleid mit den passenden Handschuhen aus. Lady Exbridge beobachtete sie tatsächlich durch ihr Opernglas.

»Es heißt«, murmelte Basil, »sie und Stokes könnten einander nicht ausstehen. Unglücklicherweise blieb ihr nach dem Tod des Sohnes als einziger Verwandter nur das illegitime Enkelkind.«

Und er hat niemanden außer ihr, stellte Emma in Gedanken fest.

»Sie befinden sich im Kriegszustand, seit ihr Verlobter sie vor dem Bankrott gerettet hat.«

»Mir ist bewusst, dass es gewisse innerfamiliäre Spannungen gibt«, sagte Emma vorsichtig.

»Das ist noch milde ausgedrückt.« Basil zog eine Braue hoch. »Stokes' Vater hat sich weder für die Finanzen noch für die Güter der Familie interessiert. In der Tat hat Wesley Stokes sein gesamtes Erbe achtlos verspielt. Ehe er sich schließlich bei einem Reitunfall das Genick gebrochen hat.«

»Ja, natürlich, ich kenne die Geschichte«, kam Emmas spröde Erwiderung. »Ich finde, es war wirklich nobel von meinem, äh, Verlobten, dass er nach dem Tod seines Vaters das Vermögen der Familie gerettet hat.«

Basil sah sie grinsend an. »Es war sicher weder seine uneigennützige Großmut noch sein Familiensinn, der ihn dazu bewogen hat. Allgemein ist man der Auffassung, dass er es getan hat, um Lady Exbridge zu erniedrigen.«

»Sie zu erniedrigen? Wie in aller Welt sollte er sie durch eine derartige Geste erniedrigen?«

»Es heißt, er hätte die Hoffnung gehegt, sie zu zwingen, ihn endlich offiziell anzuerkennen. Was natürlich das Letzte gewesen wäre, was sie je getan hätte. Schließlich ist seine Existenz eine einzige Peinlichkeit für sie. Also hat sie sich lieber vollkommen zurückgezogen als sich in eine Position zu begeben, in der sie gezwungen gewesen wäre, so zu tun, als wäre sie froh über die Verwandtschaft zu einem Mann wie Stokes.«

»Wie schrecklich.«

»Es heißt, dass Stokes das genaue Abbild seines Vaters ist. Jedes Mal, wenn Victoria ihn sieht, sieht sie demnach zweifellos Wesley vor sich und das, was ihr Sohn hätte sein können, wäre er ein anderer gewesen. Was sie sicher ohne Ende wütend macht.«

»Wie traurig für die beiden.«

Basil lachte beinahe böse auf. »Also bitte, meine liebe Miss Greyson. Sie sind viel zu weichherzig. Sie verstehen nicht, wie sich solche Dinge in unseren Kreisen abspielen. Ich versichere Ihnen, dass weder Stokes noch Lady Exbridge auch nur eine Minute ihres Lebens damit verschwenden, darüber betrübt oder gar traurig zu sein. Dafür haben sie beide viel zu viel Freude an dem ständigen Gefecht.«

Emma beobachtete, wie Lady Exbridge ihr Opernglas sinken ließ und sich der neben ihr sitzenden kräftigen Matrone zuwandte. Obgleich sie Lady Exbridges Miene nicht erkennen konnte, verriet ihr etwas an ihren steifen, knappen Bewegungen, dass Basil im Unrecht war. Lady Exbridge fand kein Vergnügen an dem Krieg mit ihrem Enkelsohn. Man brauchte keine besondere Intuition, um zu erkennen, dass sie unglücklich und höchstwahrscheinlich einsam war.

»Ich frage mich -« Plötzlich klang Basil nachdenklich. »Ja?« Emma wandte sich ihm wieder zu. »Was fragen Sie sich?«

»Nichts, wirklich. Vergessen Sie es.«

»Das ist wohl kaum möglich, wenn Sie derart geheimnisvoll tun, Sir. Was hatten Sie sagen wollen?«

»Natürlich geht es mich nichts an, aber, nun ...« Basil stieß einen Seufzer aus. »Vielleicht ist es nur fair, wenn ich Sie warne.«

»Mich warnen? Wovor?«

Er senkte seine Stimme auf ein verschwörerisches Flüstern herab und beugte sich mit ernster Miene vor. »Bitte sehen Sie das, was ich jetzt sage, als Ausdruck der natürlichen Besorgnis eines Freundes an. Aber mit einem Mal kam mir der Gedanke, ob Sie nicht vielleicht als Schachfigur in dem Krieg zwischen den beiden missbraucht werden.«

»Was in aller Welt wollen Sie damit sagen?«

Basil kniff die Augen zusammen. »Vielleicht haben Sie bereits gehört, dass Stokes' Mutter eine Gouvernante war, für die die Affäre mit Wesley den Ruin bedeutet hat.«

»Ja, das habe ich gehört. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Ob es ihr nun gefällt oder nicht, ist Edison Stokes Lady Exbridges einziger Blutsverwandter. Der Abkömmling ihres einzigen Kindes. Er ist ihre einzige Hoffnung auf Fortführung des Familiennamens. Stokes hat es geschafft und sich durch seinen Reichtum eine gewisse Respektabilität erkauft. Seine eigenen Kinder, ihre zukünftigen Urenkel, werden in der Gesellschaft einiges Ansehen genießen. Das weiß sie besser als jeder andere.«

»Und was wollen Sie damit sagen, Sir?«

»Mir kam gerade der Gedanke, dass sicher nichts auf der Welt Lady Exbridge stärker verärgern würde als mit ansehen zu müssen, dass sich Stokes eine Frau sucht, die sie für nicht passend hält. Eine Frau, die obendrein einmal einen sozialen Status hatte, der dem seiner Mutter ähnlich ist. Schließlich wird diese Frau die Mutter ihrer Urenkel.«

Angesichts der unterschwelligen Bedeutung seiner Worte rang Emma fassungslos nach Luft. Allerdings hatte sie sich sofort wieder in der Gewalt. Schließlich, dachte sie, kannte sie den wahren Grund dafür, dass Edison sich offiziell mit ihr verlobt hatte. Er hatte nichts mit Rachegedanken gegenüber seiner Großmutter zu tun.

»Da irren Sie sich, Mr. Ware.«

»Wahrscheinlich«, gab er großmütig zu. »Bitte verzeihen Sie mir. Ich wollte Sie nur davor schützen, dass Sie für irgendwelche hinterhältigen Vorhaben benutzt werden.«

»Ich werde nicht benutzt, Sir.« Zumindest nicht so, wie er sich das vorstellte, fügte Emma stumm hinzu.

»Natürlich nicht.« Basil ließ seinen Blick über den Zuschauerraum schweifen und wandte sich dann einem anderen Thema zu. »Wie ich sehe, ist Miranda mal wieder ganz in ihrem Element. Sie ist wirklich eine sehr zielstrebige Person, finden Sie nicht auch? Und bei ihrem Aussehen ist sie Niederlagen sicher nicht gewohnt.«

Emma wandte ihre Aufmerksamkeit gerade rechtzeitig wieder Mirandas Loge zu, um zu sehen, dass Edison in ihre Richtung sah. Sie meinte, dass er die Stirn runzelte, als er Basil neben ihr ausmachte, aber aus der Entfernung konnte sie es nicht genau erkennen. Noch während sie ihn beobachtete, wandte er sich wieder Miranda zu und antwortete auf etwas, das sie offenbar gesagt hatte.

Er versuchte, das Geheimnis ihrer Vergangenheit zu lüften, erinnerte sie sich.

Aber schließlich beherrscht auch sie die feine Kunst, Menschen Informationen zu entlocken, dachte sie.

»Sie haben vollkommen Recht, Mr. Ware. Lady Ames ist wirklich ein reizendes Geschöpf.« Emma hoffte, ihre Stimme klänge möglichst beiläufig. »Kennen Sie sie schon lange?«

»Nicht wirklich.« Basil zuckte mit den Schultern. »Wir wurden kurz nach Eröffnung der Saison auf einem Fest bei den Connervilles einander vorgestellt. Ich fand sie durchaus amüsant, und so habe ich sie zu meiner Landparty eingeladen.«

»Kannten Sie ihren verstorbenen Gatten?«

»Ich habe den Mann nie gesehen.« Basil setzte ein wissendes Grinsen auf »Aber ich kann mir durchaus vorstellen, woran er gestorben ist.«

»Wie bitte?«

»Lady Ames kann selbst für einen Mann in den besten Jahren etwas anstrengend sein. Wie ich hörte, war ihr Gatte ein älterer Mann. Wahrscheinlich hatte er nicht die geringste Chance. Ich nehme an, dass er an Erschöpfung gestorben ist.«

Emma spürte, dass ihr die Röte in die Wangen schoss. »Ich verstehe.« So viel zu ihrem Talent als Spionin, dachte sie. Sie räusperte sich und wandte ihre Augen wieder den gegenüberliegenden Balkonen zu.

Sie sah sofort, dass Edison aus Mirandas Loge verschwunden und dass ein anderer Mann an seine Stelle getreten war.

»Tja, ich denke, dann gehe ich mal wieder.« Basil erhob sich abrupt und beugte sich tief über Emmas Hand. »Ihr Verlobter scheint auf dem Weg zurück hierher zu sein. Vielleicht hat es ihn gestört, mich mit Ihnen plaudern zu sehen.«

Sie erkannte an dem zufriedenen Glitzern in seinen Augen, dass Basil ging, weil er meinte, dass er sein Ziel erreicht hatte. Er hatte sich auf ihre Kosten amüsiert. Für ihn war es nichts anderes als ein netter Sport, mit der Frau eines anderen zu flirten, dachte sie. Und heute Abend hatte das Spiel wegen der Anwesenheit von Lady Exbridge zweifellos einen ganz besonderen Reiz für ihn gehabt.

»Bleiben Sie doch noch, Mr. Ware.« Emma sah ihn mit einem kühlen Lächeln an. »Ich bin sicher, dass Edison mit Ihnen zu sprechen wünscht.«

»Ich habe kein Bedürfnis, mich zu einem Duell zu verabreden.« Statt Belustigung drückte sein Blick nun ernste Sorge aus. »Ich hoffe, Sie werden nicht vergessen, was ich auf Ware Castle zu Ihnen gesagt habe, Miss Greyson. Falls Sie jemals in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken sollten, wenden Sie sich bitte umgehend an mich.«

»Wirklich, Mr. Ware, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was für Schwierigkeiten das sein sollen.«

»Sie haben mein Versprechen, dass ich dafür sorgen werde, dass Sie nicht ohne Freunde und Einkommen dastehen, wenn Stokes sein Spielchen beendet hat.«

Ehe Emma noch etwas erwidern konnte, hatte sich Basil aus dem Staub gemacht.

Ein paar Minuten später bewegte sich abermals der schwere Vorhang an der Rückwand der Loge, und Edison trat ein. Er nickte den um Letty versammelten Herren zu und nahm neben Emma Platz.

»Was zum Teufel hat Ware hier getrieben?«, fragte er ohne Einleitung.

Emma setzte eine höflich überraschte Miene auf. »Er hat mir ganz einfach seine Aufwartung gemacht.«

»Den Teufel hat er getan. Er ist fest entschlossen, Sie zu verführen. Und er wird sich nicht eher zufrieden geben, als bis dieses Ziel von ihm erreicht worden ist.«

»Wie eigenartig«, murmelte Emma. »Mr. Ware hat mir gerade dieselbe Warnung in Bezug auf Sie und Miranda zuteil werden lassen. Er ist der festen Überzeugung, dass Lady Ames Sie in die Falle locken will und dass sie nicht eher aufgeben wird, als bis sie Sie tatsächlich erobert hat. Ich glaube, er dachte, sie hätte Sie heute Abend zu sich in die Loge gelockt.«

Edison bedachte sie mit einem strengen Seitenblick. »Sie wissen, verdammt noch mal genau, weshalb ich in Mirandas Loge war.«

»Allerdings, das weiß ich, Sir.« Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Und, haben Sie Erfolg gehabt?«

»Nein.« Seine Stimme klang erbost. »Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Frau tatsächlich früher Schauspielerin gewesen ist. Sie hat eine Art, Fragen zu umgehen, ohne dass -«

»Emma, meine Liebe«, zwitscherte Letty von der anderen Logenseite her. »Ich würde gern kurz etwas mit Ihnen besprechen, falls das möglich ist.«

Emma blickte an Edison vorbei in Richtung der Stelle, wo Lady Mayfield umringt von ihren ergrauten Galanen saß. »Ja, Madam?«

»Bickle hier -«, Letty machte eine Pause und bedachte den behäbigen Bickle mit einem liebevollen Blick, »hat mich gerade eingeladen, nach der Vorstellung in seiner Kutsche mitzufahren. Er lädt mich ein auf die Turleysche Soiree. Würde es Ihnen also sehr viel ausmachen, wenn ich Sie für den Rest des Abends der Obhut Ihres charmanten Verlobten überließe?« Sie zwinkerte Edison fröhlich zu. »Ich bin sicher, dass er sich bestens um Sie kümmern wird.«

Emma spannte sich an, ehe ihr ein halb furchtsamer, halb freudiger Schauder über den Rücken rann. Sie und Edison waren nicht mehr allein gewesen, seit Edison vorletzte Nacht aus Lettys Bibliothek gegangen war und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, aber sie war sich nicht sicher, ob sie abermals mit ihm allein sein wollte, merkte sie.

Ein Teil von ihr fürchtete sich davor, dass er auf das, was sie den Zwischenfall in der Kutsche nannte, zu sprechen kommen würde, und ein anderer Teil von ihr befürchtete, dass er darüber hinweggehen würde, als wäre nichts geschehen.

Aber was sollte sie schon tun? »Natürlich macht es mir nichts aus. Genießen Sie den Abend, Letty.«

»Oh, das werde ich ganz sicher tun.« Letty strahlte Bickle an, woraufhin dieser ungesund errötete. »Seine Lordschaft ist ein höchst unterhaltsamer Gesellschafter.«

In der engen altmodischen Reithose, die Seine Lordschaft trug, war unmöglich zu übersehen, wie erregt er war.

Emma wandte die Augen hastig, doch nicht schnell genug, von Bickles Hose ab. Edison bedachte sie mit einem amüsierten Blick, den sie ignorierte, bis sich endlich der Vorhang zum letzten Akt von Othello wieder hob.

 

Am Ende der Vorstellung wartete Emma im überfüllten Foyer des Theaters, während Edison nach seiner Kutsche rief. Als er zurückkam, um sie abzuholen, ließ sie sich gnädig von ihm nach draußen führen und beim Einsteigen behilflich sein. Als er ihren Arm umfasste, spürte sie deutlich seine Anspannung.

Gütiger Himmel, er spräche tatsächlich über den Zwischenfall.

Edison schwang sich leichtfüßig hinter ihr in den Fahrgastraum und nahm ihr gegenüber Platz. »Ich muss mit Ihnen reden«, begann er.

Emma atmete tief ein. Sie wäre für alles gewappnet, dachte sie. Ihre Karriere als bezahlte Gesellschafterin hatte sie zu einer Frau von Welt gemacht. Sie käme mit derartigen Dingen durchaus zurecht. Sie beschloss zu tun, als wäre nichts Besonderes passiert. Das wäre sicher das Vernünftigste, nein, das einzig Vernünftige.

»Ich bin ziemlich müde, Sir«, verkündete sie aus diesem Grund. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne nach Hause fahren.«

»Eine hervorragende Idee.« Offensichtlich erleichtert lehnte er sich zurück. »Ich wollte gerade dasselbe vorschlagen, aber ich hatte Angst, Sie würden vielleicht nicht einverstanden sein.«

Das zufriedene Blitzen in seinen Augen versetzte sie in heißen Zorn. »Falls Sie sich einbilden, ich spräche damit eine ... eine unziemliche Einladung aus, dann haben Sie sich, verdammt noch mal, geirrt. Ich habe wahrlich nicht die Absicht, das zu wiederholen, was sich vorgestern Nacht in dieser Kutsche zwischen uns beiden ereignet hat.«

Bravo, Emma, dachte sie säuerlich. Jetzt hast du selbst die Sprache auf das leidige Thema gebracht.

Edison sah sie mit einem humorlosen Lächeln an. »Selbst wenn ich das Glück hätte, eine derart köstliche Einladung von dir zu bekommen, meine Liebe, müsste ich heute Abend leider ablehnen.«

»Wie bitte?«

»Es ist etwas sehr Interessantes geschehen.«

Sie merkte sofort, dass er von etwas vollkommen anderem als dem Zwischenfall sprach. »Was meinen Sie?«

»Als ich vor ein paar Minuten vor das Theater ging, um die Kutsche zu holen, wartete dort ein Gassenjunge mit einer Nachricht auf mich.«

»Mit was für einer Nachricht?«

»Von einem alten Geschäftspartner von mir, einem Gelegenheitsschmuggler namens Einohriger Harry. Er treibt sich immer in den Docks herum. Hin und wieder habe ich ihm während des Krieges Informationen abgekauft.«

Emma starrte ihn entgeistert an. »Gütiger Himmel«, stieß sie aus. »Was für Informationen kann man denn von einem Schmuggler kaufen?«

Edison zuckte mit den Schultern. »Nachrichten von den Schiffen, die in von Franzosen kontrollierten Gewässern kreuzen. Einzelheiten über das Land nahe der Küste. An welchen Stellen es militärische Stützpunkte gibt. Das Übliche.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Und weshalb sollten Sie an solchen Informationen interessiert sein, Sir?«

»Ich bin ein Mann mit vielfältigen Geschäftsinteressen«, antwortete er ihr. »Ich konnte nicht zulassen, dass all meine Geschäfte zum Erliegen kommen, nur weil Napoleon es sich in den Kopf gesetzt hatte, die Welt zu erobern.«

»Natürlich nicht«, murmelte sie. Wahrscheinlich wäre es am besten, sie ginge nicht weiter auf dieses Thema ein. Sie war sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, dass Edison während des Krieges gegen Frankreich als Schmuggler tätig gewesen war. »Unvorstellbar zuzulassen, dass Napoleon einem bei seinen Geschäften in die Quere kommt.«

Edison wirkte, als amüsiere ihn ihr kühler Blick »Hin und wieder haben die Informationen, die ich vom Einohrigen Harry bekommen habe, auch den Behörden etwas genützt. Und natürlich habe ich sie umgehend weitergeleitet.«

»Ich verstehe.« Dann hatte er also früher einmal als Spion fungiert. »Scheint, als hätten Sie ein wirklich aufregendes Leben geführt. Und was für Informationen, meinen Sie, dass dieser Einohrige Harry heute Abend für Sie hat?«

»Ich habe ihm gestern die Nachricht zukommen lassen, ich bräuchte Informationen über den Mann, der uns in Lady Ames' Garten angegriffen hat. Und da Harry ein Faible für schlechte Gesellschaft hat, bin ich sicher, dass er etwas weiß.«

»Ich verstehe.« Kritisch zog sie die Brauen hoch. »Und da Sie und dieser Harry offenbar gut miteinander zurechtkommen, nehme ich an, haben Sie dasselbe Faible wie er.« Sein Mund wurde von einem flüchtigen Lächeln umspielt, als er antwortete: »Ein Mann mit ausgedehnten Geschäftsinteressen muss flexibel sein.«

»So kann man es sicher auch nennen.«

»Auf alle Fälle hoffe ich, dass Harry etwas Nützliches herausgefunden hat.« Edison blickte auf die dunkle Straße hinaus, ehe er reglos hinzufügte: »Lorring hat mir gesagt, dass ich keine Zeit mit Nachforschungen in dieser Richtung vergeuden soll, aber ich habe das Gefühl, als bekäme ich dadurch einige durchaus nützliche Antworten.«

Ein Schauder rann Emmas Rücken hinab, ähnlich dem, den sie vor einigen Minuten im Theater verspürt hatte. Jetzt wusste sie, dass er mit der Furcht vor einem Gespräch über den »Zwischenfall« nichts zu tun hatte. Heute Abend stünde ihnen etwas wesentlich Gefährlicheres bevor.

»Wo sind Sie mit diesem Einohrigen Harry verabredet?«

»In einer Taverne namens Roter Dämon in der Nähe des Hafens.«

Abermals rann Emma ein Schauder über den Rücken. »Edison, dieser Plan gefällt mir nicht.«

»Es gibt nichts, weshalb Sie sich Sorgen machen müssten«, versicherte er ihr.

Sie versuchte in Worte zu fassen, was sie bisher noch nie hatte erklären können. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Jeder weiß, dass die Umgebung des Hafens vor allem um diese Zeit gefährlich ist.«

»Ihre Sorge um die Sicherheit Ihres Arbeitgebers weiß ich wie immer zu würdigen.« Er lächelte sie schräg an. »Aber keine Sorge, Emma, ich werde überleben, sodass Ihnen Ihr Gehalt und Ihr verdammtes Empfehlungsschreiben sicher sind.«

Ohne Vorwarnung war sie von heißem Zorn erfüllt. Sie ballte die Fäuste in ihrem Schoß. »Mr. Stokes, von Ihrem Sarkasmus habe ich endgültig genug. Zufällig bin ich ein Mensch mit einer ausgeprägten Intuition, und bei dem Gedanken an Ihr geplantes Treffen mit diesem Einohrigen Harry habe ich einfach ein ungutes Gefühl. Ich habe lediglich versucht, Sie vor etwas zu warnen, was unter Umständen gefährlich für Sie ist.«

»Sie dürfen davon ausgehen, dass ich die Warnung gehört habe.« Er beugte sich vor und umfasste mit Daumen und Zeigefinger ihr trotzig gerecktes Kinn. »Und als Gegenleistung werde ich Ihnen gegenüber ebenfalls eine ein dringliche Warnung aussprechen.«

»Und was für eine Warnung soll das sein?«

»Hüten Sie sich davor, jemals mit Basil Ware allein zu sein.« Edisons Miene war kalt wie winterlicher Frost. »Halten Sie sich von ihm fern, Emma. Er betrachtet Sie als Preis in einem bösen, kleinen Spiel. Hat er erst einmal Erfolg gehabt, wird er jedes Interesse an Ihnen verlieren. Glauben Sie mir.«

Plötzlich war sie unerklärlich atemlos, doch sie unterdrückte das beunruhigende Gefühl durch abermalige Verärgerung. »Meinen Sie, ich wüsste nicht, was für eine Sorte Mann er ist? Ich bin eine Expertin auf diesem Gebiet. Ich brauche also keine wohlmeinenden Ratschläge.«

»Trotzdem, als Ihr Arbeitgeber fühle ich mich verpflichtet, Sie zu bitten, auf der Hut zu sein.«

»Ich versichere Ihnen, ich kann durchaus selbst auf mich aufpassen. Hören Sie lieber auf meine Warnung, Sir.«

»Das werde ich.«

Er ließ sie los, lehnte sich wieder zurück und öffnete seine schneeweiße Krawatte. Mit zunehmendem Unbehagen beobachtete sie, wie er sie auf den Sitz neben sich warf, den Kragen seines Mantels öffnete, noch einige unwesentliche Veränderungen an seinem Äußeren vornahm und schließlich seine Taschenuhr versteckte, bis er schließlich einzig aus Dunkelheit und Schatten zu bestehen schien.

»Edison, ich meine es ernst«, wisperte sie. »Versprechen Sie mir, heute Nacht sehr vorsichtig zu sein.«

Sein Lächeln hatte etwas Animalisches. »Würden Sie mir als Glücksbringer einen Kuss geben?«

Sie zögerte, doch dann beugte sie sich trotz seines gefährlichen Lächelns ein wenig vor und strich ihm vorsichtig mit den Lippen über den Mund.

Von der Sanftheit ihrer Geste war er eindeutig überrascht, doch ehe er reagieren konnte, hatte sie sich bereits wieder von ihm gelöst.

Eine lange Zeit bedachte er sie mit einem rätselhaften Blick.

»Ihnen ist klar, dass Sie dem Gespräch über das, was zwischen uns beiden vorgefallen ist, nicht auf Dauer ausweichen können?«, fragte er in beiläufigem Ton.

Emma ging nicht auf seine Worte ein. »Was meine eigenen Pläne für heute Abend betrifft, Sir, so habe ich es mir anders überlegt. Ich werde doch noch nicht nach Hause fahren. Sie können dem Kutscher sagen, dass er mich auf der Soiree der Smithons absetzen soll. Wenn Ihr Gespräch im Hafen beendet ist, können Sie mich dort abholen. Ich bin schon gespannt darauf zu erfahren, was der Einohrige Harry Ihnen zu erzählen hat.«